„Mir ist heute bewusst geworden, wie sehr mein Arbeitsumfeld doch einem Ponyhof gleicht“ – so die Rückmeldung einer Teilnehmerin unseres Leadership-Programms nach unserem Programmtag in der JVA Tegel. In der Tat boten die Einblicke in die Wohn-, Arbeits- und Therapiebereiche wie auch die Gespräche mit Führungskräften und Inhaftierten der JVA eine ganze Spannbreite an Erkenntnismöglichkeiten, zu denen der Vergleich mit dem eigenen Führungskontext sicherlich auch gehörte.
Der Respekt vor den Herausforderungen des Arbeitsumfeldes Gefängnis stieg enorm – gerade auch, weil für die meisten Menschen der Strafvollzug eine Black-Box ist, über die man in der Regel lediglich Klischees aus Fernsehserien vor Augen hat oder Schlagzeilen darüber kennt, wenn mal etwas schief läuft. Einmal die andere Seite zu sehen und zu erkennen, wie viel Gutes im Strafvollzug geleistet wird und wie herausfordernd dieser Führungskontext ist, dazu hatten die Teilnehmenden unseres Collaborative Leadership Programms einen ganzen Tag lang Gelegenheit.
Ein Beispiel:
Als Führungskräfte sollte man unabhängig vom Arbeitsbereich zwei unterschiedliche Fähigkeiten besitzen:
a) einerseits empathisch sein, mitzubekommen, wie es den Menschen geht und sie motivierend mitnehmen zu können und
b) andererseits auch Grenzen ziehen zu können und auch Dinge vertreten und durchsetzen zu können, mit denen man sich nicht bei allen beliebt macht.
Die einen können das eine besser, die anderen haben in dem anderen ihre Stärken und gute Führungskräfte sind zu beidem in der Lage, wobei Aspekt a) heutzutage etwas mehr gefragt ist als Aspekt b). Im Strafvollzug sollte man in beiden Aspekten außerordentlich gut sein.
In den Gesprächsformaten mit Führungskräften des Strafvollzugs zeigte sich, dass diese nicht nur im Hinblick auf b) besondere Stärken hatten – sondern dass gerade im Strafvollzug auch Kategorie a) besonders erforderlich ist und die Anforderung an Führungskräfte, aber auch an die Justizvollzugsbeamten, insofern ist, eine besondere Spannbreite abzubilden, die dann auch noch authentisch gezeigt werden sollte.
Warum dies so ist, wurde u.a. aus folgender Aussage eines Justizvollzugsbeamten deutlich: „Meine Beziehung zu den Gefangenen auf meiner Station sollte so sein, dass, wenn ich von einem Gefangenen angegriffen werde – mir hoffentlich andere Gefangene zu Hilfe kommen“. Und diese Aussage ist auch gut nachvollziehbar, denn ein Justizvollzugsbeamter ist für eine Station oder Wohngruppe mit teilweise mehr als 30 Gefangenen verantwortlich. Während des Dienstes werden übrigens weder Schlagstock, Pfefferspray oder gar Schusswaffen zur Selbstverteidigung, da diese im Konfliktfall gegen die Bediensteten verwendet werden könnten. Die beste Waffe ist neben einer menschlichen und klaren Umgangsform im Grund „der Mund“ und die Fähigkeit, die richtigen Worte zu finden, so eine weitere Rückmeldung.
So wichtig es ist, dass Vollzugsbeamte die Inhaftierten menschlich zu behandeln und eine Beziehung aufzubauen – so wichtig ist es natürlich auch, Grenzen zu zeigen. Und diese Fähigkeit wird jeden Tag von Inhaftierten auf die Probe gestellt.
Aber auch in anderer Hinsicht erlebten die Teilnehmenden unseres Leadership-Programms einen Führungskontext, der herausfordernder ist als viele andere:
Beispielsweise im Hinblick auf interkulturelle Zusammensetzung, interkulturelle Kompetenzen und Rassismus. So haben über 50% der Gefangenen eine nichtdeutsche Staatsbürgerschaft, was mitunter einige Herausforderungen und den Nährboden für sprachliche und kulturelle Verständnisprobleme mit sich bringt.
- Wie geht man als Führung mit Gruppenbildung und Auseinandersetzungen zwischen Inhaftierten verschiedener Herkunftsländer um?
- Wie mit Rassismus zwischen Inhaftierten oder auch zwischen Inhaftierten und den Bediensteten?
- Wie und wann schützt man Bedienstete vor falschen Rassismusvorwürfen?
- Wie geht man mit gerechtfertigten Rassismusvorwürfen um?
- Wie gelingt es, junge Menschen für eine Arbeit im Strafvollzug zu gewinnen und damit für einen Arbeitskontext, für den es noch viel schwieriger ist, Nachwuchs zu gewinnen als in vielen anderen?
- Wie gelingt es, einerseits den für die Arbeit mit Straftätern wichtigen Zusammenhalt in der Belegschaft zu erhalten oder zu fördern – und gleichzeitig sicherzustellen, dass es nicht auf ein Corps-Denken hinausläuft und man als Führungskraft über Missstände und Fehlverhalten informiert wird?
- Wie gelingt es, die Veränderung in der Belegschaft im Hinblick auf einen wachsenden Anteil von Bediensteten mit Migrationsgeschichte und Angehörigen der Generation Z mit möglicherweise anderen Werten so zu gestalten, dass daraus ein Mehrwert entsteht?
- Und wie gelingt es, mit der Situation des Personalmangels umzugehen, wenn Arbeitsbereiche nicht so besetzt werden können, wie sie sein sollten?
Alle diese Themen sind nicht nur solche im Strafvollzug, sondern stellen sich auch in anderen Führungskontexten als Herausforderungen.
Wir sind dankbar für die Offenheit der Führungskräfte der JVA Tegel, in unserem geschützten Rahmen des Leadership-Programms über solche Themen zu sprechen. Die Einblicke und der Austausch war sehr inspirierend und wir danken ganz herzlich allen Führungskräften der JVA Tegel, die an diesem Austausch teilgenommen haben, insbesondere:
- Martin Riemer, Anstaltsleiter der JVA Tegel,
- Albrecht Zierep, Vollzugsleiter und ständiger Vertreter des Anstaltsleiters,
- Daniel Vogel, Leiter des Servicebereiches,
- Johanna Schmid, Leiterin der Sozialtherapeutischen Anstalt,
- Nicol Helmholz, Leiterin der Serviceeinheit Gesundheitsorientiertes Personalmanagement,
- Claudia Kardinal und Alexander Oestreich aus der Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit,
- allen Bediensteten aus dem Vollzugsdienst und den Arbeits- und Therapiebereichen, mit denen wir sprechen durften,
- und natürlich auch den Inhaftierten von der Gefängniszeitung „Der Lichtblick“, der Interessenvertretung der Gefangenen und sonstigen Gefangenen, mit denen unsere Führungskräfte in Kleingruppen ohne Aufsicht ein Gespräch über ihre Sicht auf den Strafvollzug führen durften. Dies zu ermöglichen verdient auch unseren größten Respekt vor den Führungskräften der JVA.
Wir hoffen, dass der Strafvollzug und seine Leistung für die Gesellschaft in Zukunft mehr die Wertschätzung erfahren, die sie ob der besonderen Herausforderungen – für die Justizvollzugsangestellten wie auch die Führungskräfte – verdienen!
Zu letzterem Aspekt möchten wir mit dieser Rückschau beitragen und unseren Respekt und unsere Wertschätzung gegenüber dem Strafvollzug zum Ausdruck bringen.
Wie auch schon zuvor nach unseren Leadership-Programmformaten in der JVA Moabit, JVA Heidering und der JVA für Frauen Berlin werden wir in Folge unseres Programmtags in der JVA Tegel weitere Begegnungen zwischen Führungskräften aus unserem Netzwerk und Führungskräften bzw. auch Gesprächsformaten mit Inhaftierten ermöglichen. Einen Einblick in unser Format „Das Leben draußen“ in der JVA für Frauen Berlin bietet https://leadership-berlin.de/gemeinnutzige-aktivitaten/#resozialisierung . Wir sind dankbar für alle Führungskräfte, die bereit sind, sich einmalig oder auch mehrfach ehrenamtlich in Formaten im Strafvollzug zu engagieren. Bei Interesse freuen wir uns über direkte Nachricht an info@leadership-berlin.de .