„Wie würdet ihr reagieren, wenn eure Schwester, euer Bruder oder Freunde euch mitteilen, dass sie homosexuell sind?“
Gilles Duhem ist für viele Schüler ein bekanntes Gesicht. Unweit der Zuckmayer-Schule führt der 51-Jährige den Verein MORUS 14, der mit vielen freiwilligen Schülerinnen und Schülern aus dem Kiez auch Nachhilfe anbietet. Kurz erzählt er von seinem Werdegang. Aus Paris ist er vor rund 30 Jahren nach Deutschland gekommen, hat in Berlin studiert und leitet seit 2007 den Verein in der Morusstraße.
Nachdem die Schülerinnen und Schüler einen Stuhlkreis gebildet haben, bittet Gilles, darum, die Sitzordnung zu ändern – immer ein Junge und ein Mädchen nebeneinander. Für manche ist das keine leichte Aufgabe, sitzen sie doch sonst immer nach Geschlecht getrennt voneinander. Aber die Vertretungsstunde ist heute anders.
Gilles überrascht die Jugendlichen mit einem Satz an der Tafel: „Ich bin schwul und das ist auch gut so“. Wer hat das gesagt? Einige erinnern sich an diese Aussage von Klaus Wowereit zu seinem Amtsantritt. „Das hätte auch ich sagen können“ verrät Gilles und schon gibt es viele Fragen: Hat er einen Freund oder ist er verheiratet, hat er Kinder adoptiert, wann hat er gemerkt, dass ihn Mädchen nicht interessieren und wer ist der Mann, wer ist die Frau beim Sex? Ein Junge sagt: „Ich bin da ganz ehrlich, ich bin schwulenfeindlich. Ich weiß nicht genau warum, aber wenn da einer kommt und mich anmacht!“
Gilles setzt Homosexualität zunächst in ein Verhältnis aus Zahlen und Fakten: 5 % der Weltbevölkerung bezeichnet sich als schwul, lesbisch, bi- oder transsexuell. Und das gab es schon immer. Bei den Muslimen sind es ca. 80 Millionen Menschen weltweit. Das löst Verwunderung aus. In vielen Ländern dürfen Homosexuelle heiraten und Kinder bekommen oder adoptieren, aber es gibt auch Orte, in denen sie ihre Homosexualität verschweigen müssen, weil sie unter Todesstrafe steht. Das ist z.B. im Iran, in Afghanistan oder in Saudi-Arabien der Fall. Die Selbstmordrate bei Homosexuellen ist dreimal so hoch wie bei Heterosexuellen, auch dies spricht eine deutliche Sprache. Für viele Menschen aus der muslimischen Community, die in Berlin leben, ist es schwer, zu ihrer Sexualität zu stehen, weil es ein großes Tabu ist. Gilles unterstützt einige geflüchtete Schwule aus dem Nahen Osten und berichtet von einem schwulen Imam aus Frankreich, der Homosexuelle in die Moschee einlädt.
Ein Junge möchte wissen: Wie war es bei ihm, hat sein Vater ihn nicht geschlagen, als er erfahren hat, dass sein Sohn schwul ist? Gilles sagt, dass seine Eltern moderne Ansichten haben, und es völlig unproblematisch war. Nicht alle Eltern reagieren so. Gilles erzählt von einem bayrischen Freund, der 1983 an seinem 18. Geburtstag von der Schule nach Hause kam, und einen gepackten Koffer vor der verschlossenen Tür fand. Oder von einem Fall aus Berlin. Hier wurden einem jungen Mann von seinem Vater und seinen Onkeln K.O.-Tropfen verabreicht, im Kofferraum eines Autos wollten sie ihn in den Libanon bringen, um ihn dort töten zu lassen. Glücklicherweise fielen sie Grenzpolizisten auf und wurden verhaftet. Die Schüler sind betroffen: „Es ist doch immer noch mein Kind“ sagt ein Mädchen.
„Wie würdet ihr reagieren, wenn eure Schwester, euer Bruder oder Freunde euch mitteilen, dass sie homosexuell sind?“ will Gilles wissen. „Ich würde ihm ein Mädchen klar machen“ sagt einer sofort. Einige Schüler reagieren empört, sie würden nicht mehr miteinander reden. Vor allem wollen sie nicht, dass andere davon erfahren. „Rausschmeißen oder schlagen“ sagt einer. Auch „töten, um das Blut rein zu halten“ wird als Alternative genannt, so kann die Ehre gerettet werden, ergänzt ein anderer. Jemand wirft ein, dass jeder selber wissen muss, was er mag, ob Jungs oder Mädchen, das ist doch egal, ein Mensch ist ein Mensch. Viele Vorschläge drehen sich um die passende Bestrafung, doch es gibt auch leisere Töne: ein Junge erzählt, dass er einen schwulen Cousin hat, ein anderer, der zuvor für’s Töten eingetreten ist, räumt ein, dass schlagen auch ausreichen würde.
Gilles lässt jede Meinung gelten und hört genau zu, verurteilt nicht. Denn er freut sich, dass die Schüler so offen sprechen. Viele geraten ins Grübeln. Und genau das ist es, was Gilles erreichen möchte – über Homosexualität zu reden ist ein erster Schritt weg vom Tabu und eine Einladung zur Reflektion. Die heutige Vertretungsstunde ist ganz sicher ein Anfang dafür. „Sex ist doch auch viel interessanter als Schule“ sagt Gilles mit einem ansteckenden Lachen, als es zur Pause klingelt.